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Neue Sachlichkeit in der Schweiz

Der Begriff Neue Sachlichkeit bezeichnet einen gegenstandsbezogenen Realismus im deutschsprachigen Raum, der sich in Abgrenzung gegenüber expressionistischen Tendenzen in der Zwischenkriegszeit von 1919 bis 1933 entwickelte. Die Nachwirkungen des Ersten Weltkrieges sowie die damit verbundenen sozialen und politischen Unruhen bilden den gesellschaftspolitischen Hintergrund zu seiner Entstehung.

In der Schweiz sind sowohl die stilistische wie auch die zeitliche Eingrenzung dieser Kunstrichtung nicht eindeutig. Als ihr wichtigster Vertreter und Protagonist avant la lettre gilt der Basler Künstler Niklaus Stoecklin, der bereits während des Ersten Weltkrieges nachexpressionistische Werke schuf; diese zeichnen sich durch harte Ausleuchtung und Konturierung der Gegenstände sowie starke Farbkontraste aus (Lago Maggiore, 1916; Casa Rossa, 1917; Selbstbildnis, 1918). Als einziger Schweizer Künstler war er 1925 an der Ausstellung Die neue Sachlichkeit in der Kunsthalle Mannheim beteiligt und gilt auch international als einer der Begründer dieser neuen Stilrichtung.

Während Stoecklin der Neusachlichkeit treu blieb, sind ihr andere Schweizer Künstler nur während einer bestimmten Phase verbunden. So gilt Félix Vallottons Spätwerk, dem veristischen Realismus verpflichtet, als wichtiger Wegbereiter der Neuen Sachlichkeit. Auch Adolf Dietrich übte durch zahlreiche Ausstellungen in Deutschland Einfluss auf die Entwicklung der Neusachlichen aus, wird aber auch als naiver Künstler rezipiert. Die wichtigsten Vertreter der Neuen Sachlichkeit in der Westschweiz sind die Gebrüder Barraud, insbesondere François Barraud. Stoecklin nahe steht stilistisch das Werk von Eduard Gubler.

Weitere wichtige Vertreter der Schweizer Ausprägung der Neuen Sachlichkeit sind: Fritz Baumann, Otto Baumberger, Paul Bodmer, Le Corbusier, Theo Eble, Charles Hindenlang, Martin Lauterburg, Rudolf Maeglin, Paul-Théophile Robert, Ernst Georg Rüegg, Wilhelm Schmid, Emanuel Schöttli, Eugen Zeller.

Die Neue Sachlichkeit – und die mit ihr verbundenen Stilrichtungen wie Pittura Metafisica, Ingrisme, Verismus und Magischer Realismus – zeugt von einem Bedürfnis nach Ordnung und Überschaubarkeit; sie kann damit als eine Absage an die revolutionär gestimmte, dynamische Stimmung des Expressionismus interpretiert werden. In der Fokussierung auf die alltägliche Umgebung des Menschen zeigt sich eine Tendenz zur Verinnerlichung und Isolation. Die Thematik des Stillstandes und der Erstarrung findet ihren Ausdruck beispielsweise im beliebten Sujet der Winterlandschaft (Adolf Dietrich, Winterlandschaft am Untersee, 1930), im Stillleben sowie im emblematischen Motiv der Puppe (Niklaus Stoecklin, Die Gliederpuppe, 1930). Aber auch das Motiv der Spiegelung und Verdoppelung als Möglichkeit, die Realitätsebenen zu vervielfachen, finden sich in der Malerei der Neuen Sachlichkeit häufig.

Die Werke der neusachlichen Maler zeichnen sich durch einen altmeisterlich anmutenden Stil aus – oft in Anlehnung an mittelalterliche Andachtsbilder. Vorder- und Hintergrund sind gleichwertig behandelt, Details gestochen scharf wiedergegeben, Räume verschachtelt und perspektivisch verzerrt, häufig in Form von Kastenräumen. Die Raumauffassung wird zum Sinnbild für die menschliche Existenz in einer Zeit der Orientierungslosigkeit (Niklaus Stoecklin, Vorstellung, 1912).

Edith Krebs, 2016

Literaturauswahl:

Neue Sachlichkeit und Surrealismus in der Schweiz 1915-1940. Kunstmuseum Winterthur, 1979

Christoph Vögele: Niklaus Stoecklin und die Neue Sachlichkeit. Disseration Universität Zürich, 1992. Zürich: Zentralstelle der Universität Zürich, 1993

Fritz Schmalenbach: Die Malerei der Neuen Sachlichkeit. Berlin: Gebr. Mann Verlag, 1973

Adam C. Oellers: Ikonographische Untersuchungen zur Bildnismalerei der Neuen Sachlichkeit. Mayen: Louis Schreder, 1983

Adolf Dietrich und die Neue Sachlichkeit in Deutschland. Hrsg. von Dieter Schwarz. Kunstmuseum Winterthur, 1994

Félix Vallotton, Pommes et vase marocain, 1914


François Barraud, Les trois filles, 1917


Niklaus Stoecklin, Selbstbildnis, 1918


Niklaus Stoecklin, Vorstellung, 1921


Adolf Dietrich, Winterlandschaft am Untersee, 1933


Rudolf Maeglin, Wiesenbrücke bei Kleinhüningen, 1933